Autofahrer - Fahrradfahrer

  • Autofahrer - Fahrradfahrer

    Der Verkehrsrichter konnte mich eindeutig nicht leiden. Ich war mit
    meinem BMW von der Hauptstrasse nach rechts abgebogen und hatte
    ausnahmsweise sogar den Blinker dabei gesetzt. Über die Schulter gesehen
    hatte ich nicht, weil ich gerade eine CD wechseln musste. Die
    Radfahrerin schrie so lange, bis die Polizei kam. Der Beamte ignorierte
    meinen Hinweis, dass der Vorderreifen des Fahrrads kaum Profil hatte.
    Ich ging ohne Führerschein aus dem Gerichtsgebäude und kam mir nackt
    vor. Na gut, dann fahre ich eben sechs Monate Fahrrad. Kann ja nicht so
    schwer sein. Hauptsache, es sieht mich keiner.

    Ich hole mein altes Fahrrad aus dem Keller. Es ist rostig und verstaubt.
    Ich habe es zum zehnten Geburtstag bekommen und an diesem Tag
    offensichtlich auch das letzte Mal benutzt. Ich schwinge mich auf den
    Sattel und sitze trotzdem fast auf dem Boden. Man kann den Sattel
    sicherlich höher stellen, allerdings finde ich den Knopf nicht. Er ist
    außerdem unbeheizt. Er ist ja auch nicht von Recaro, sondern von Sachs.
    Soll ich mir vielleicht Gefrierbrand an den Eiern holen? Was denken sich
    Richter bei solchen Urteilen eigentlich?

    Ich nehme die Füße hoch und merke, wie ich zur Seite kippe. Schnell
    setzte ich die Füße wieder auf den Boden. Ich erinnere mich dunkel an
    etwas, daß meine Mutter hinter mir herrief, als ich klein war. Das Wort
    "Balance" kam darin vor. Ich lasse das linke Bein am Boden und drücke
    mit dem Rechten ein wenig auf die Pedale. Nichts passiert. Ich drücke
    ein wenig kräftiger und spüre eine leichte Vorwärtsbewegung. Leider gibt
    das Pedal irgendwie nach, ich muß also ständig nachtreten, bis es
    plötzlich verschwunden ist. Dafür entdecke ich jetzt ein Pedal auf der
    linken Seite. Muß wohl die Bremse sein.
    Trete leicht drauf, geht aber auch schwer. Hat dieses Mistding nicht mal
    einen Bremskraftverstärker? Die erwartete Wirkung bleibt aus, auch mit
    Druck auf das linke Pedal bewege ich mich vorwärts. Geht aber auch nicht
    leichter.
    Völlig durchgeschwitzt komme ich nach einer halben Stunde in der
    Toreinfahrt unseres Innenhofs an. Alle Nachbarn hängen am Fenster und
    ahmen kichernd die Fahrgeräusche meines BMW nach.

    Auf der Strasse fährt eine junge Radfahrerin an mir vorbei. Als ich ihr
    auf die Beine schaue, entdecke ich den Trick: Sie kommt vorwärts, weil
    sie abwechselnd auf Gas und Bremse tritt. Wer denkt sich denn so etwas
    aus? Als ich ihr Rad näher anschaue, fällt es mir wie Schuppen aus den
    Haaren! Ich weiß jetzt, was falsch ist: Diese Dinger haben keinen Motor!
    Meine schlimmsten Befürchtungen werden wahr. Ich versuche noch, der
    blonden Ricke hinterher zu hupen, greife aber zwischen den Lenker und
    stoße mir die Nase an der Klingel. Gott sei Dank hat der Airbag nicht
    ausgelöst. Die blöden Nachbarn fallen fast aus dem Fenster vor Lachen.
    Wenn ich meinen Lappen wieder habe, dann vergeht euch das, Prollpack,
    verdammtes!

    Ich rolle aus der Toreinfahrt auf die Strasse, indem ich mich mit den
    Fußspitzen abstoße. Leider geht es am Hang hoch und ich übe mich schnell
    im Rückwärtsfahren, jedenfalls, bis ein Müllcontainer meine Amokfahrt
    stoppt.

    Ich werde zu spät zur Arbeit kommen. OK, dumm gelaufen. Ich wähle eine
    andere Strecke, die ist zwar länger, aber es geht bergab. Ich kann dann
    vielleicht die Sache mit der Balance in Ruhe üben, ohne treten zu müssen.
    Ich wende, stoße mich leicht ab und gewinne an Fahrt. Alles geht gut,
    bis ich versuche, den linken Arm aus dem Fenster zu legen. Mein Fahrzeug
    bricht aus der Spur, ich gerate ins Schlingern. Dieses Ding hat keine
    Servolenkung, trotzdem läßt sich der Lenker leicht drehen. Zu leicht.
    Schreiend rase ich den Weg hinunter. Panik macht sich breit. Mir bleibt
    nur die Wahl zwischen einer Straßenlaterne und einer hutzeligen Oma und
    ihrem Rehpinscher, der sich gerade zitternd und glubschäugig in die
    Rabatten entlädt. Was hat das Pack eigentlich auf dem Gehweg verloren?

    Ich verbringe wertvolle Millisekunden mit einer bangen Frage: Wie bremst
    man das Ding? Instinktiv will ich auf das linke Pedal treten. Leider
    rotieren beide wie Propeller. Mein Leben zieht an mir vorbei. Ich werde
    geboren und mein erstes gesprochenes Wort lautet "Achtzylinder". Ich
    höre noch ein Geräusch, das an einen schreienden Mann erinnert, der mit
    einer für 24er Räder unüblich hohen Geschwindigkeit gegen eine Laterne
    zimmert, dann kommt die mentale Sonnenfinsternis.

    Meine Schulter tut weh und der Schnürsenkel meines linken Schuhs hat
    sich im Tretlager verheddert. Das Glas meines einzigen Scheinwerfers ist
    zerbrochen.
    Die ADAC-Karte steckt dummerweise hinter der Sonnenblende. Ich rappele
    mich mühsam auf die Beine. Die rechte Pedale ist verbogen. Der Airbag
    hat wieder nicht ausgelöst, aber ein Berg gelber Säcke am Strassenrand
    hat meinen Sturz gebremst..

    Diese blöde Oma fragt mich aufgebracht, was ich mit einem Fahrrad auf
    dem Gehweg zu suchen habe. Ich antworte ihr: Mehr als Du auf dem
    Zebrastreifen, wenn ich erst meinen Führerschein wieder habe.

    Ich setze meine Fahrt fort und trage mich immer noch mit der Hoffnung,
    dass mich niemand in dieser peinlichen Situation sieht. Leider sehen
    mich alle anderen Verkehrsteilnehmer an, weil die rechte verbogene
    Pedale mit jeder Umdrehung an den Rahmen stößt. Ich fühle mich kurz der
    Versuchung ausgesetzt, die Hand vom Lenker zu nehmen, um das Autoradio
    einzuschalten, damit es das kompromittierende Schleifgeräusch übertönt,
    lasse es aber instinktiv.

    Nach einiger Übung auf dem LIDL-Parkplatz habe ich den Bogen mit dem
    Radfahren mittlerweile ziemlich gut raus. Auf die rechte Pedale treten,
    diese verschwindet durch den Druck nach hinten, dafür taucht dann auf
    der anderen Seite die linke Pedale auf, auf die ich dann mit voller
    Wucht trete. Die Fußsohlen tun mir davon weh und manchmal trete ich noch
    daneben, aber es wird besser. Die Schwierigkeit liegt einfach in der
    Synchronisation zwischen den Tritten und dem Zeitpunkt, wann die Pedale
    vorbeikommen, gerade, wenn ich schneller werde. Und ich werde schneller!
    Die Nadel meines alten VDO-Tachos streift knapp die 5 km/h-Marke. Eben
    habe ich ein kleines Mädchen mit einem Puppenwagen überholt, das von dem
    Getrampel allerdings etwas verschreckt aussah. Morgen ziehe ich mir
    Turnschuhe mit Gummisohlen an.

    Leider habe ich das mit dem Bremsen immer noch nicht raus. Ich lasse die
    Schuhspitzen schleifen, bis ich genau neben einem Jungen zum Stehen
    komme, der sich dort an einem Zaun herumlümmelt. Ich frage ihn leise und
    verschwörerisch, wie man mit einem Fahrrad bremst. Der depperte
    Rotzlöffel schaut mich entgeistert an und zeigt dann stumm auf einen
    Hebel an meinem
    Lenker. Ich scheuche ihn weg und finde heraus, das ein bestimmter Griff
    einen Bowdenzug betätigt, der wiederum Bremsbacken veranlasst, sich um
    die Felge meines Vorderrades zu schmiegen. High-Tech liegt vor meinen
    Augen!
    Ich gerate ins Schwärmen.

    Ich werde mutiger und fahre weiter. Ich werde schneller. Ich komme auf
    ein Hindernis zu und umklammere den Bremshebel. Die Bremsbacken
    umklammern die Felge meines Vorderrades. Ich mache einen Salto über den
    Lenker und umklammere die schreiende Frau, auf der ich liege. Mein
    treues Fahrrad macht einen Salto und knallt mir in den Rücken. Die Frau
    mag meiner Argumentation, ich hätte sie vor einem herabstürzenden
    Fahrrad gerettet, nicht folgen und schreit so lange, bis die Polizei
    kommt. Ich habe Glück und erwische den gleichen Beamten, der unlängst
    meinen Führerschein vor meinen Augen verbrannt hat.

    Ich befinde mich wieder auf dem Weg zur Arbeit. Ich ziehe den Hut tief
    ins Gesicht, damit mich niemand an der Bushaltestelle wiedererkennt. Es
    kommt aber kein Bus, obwohl ich schon seit zwei Minuten an der
    Haltestelle stehe und wie ein Bekloppter winke. Schließlich kommt das
    Mistding. Ich steige ein und bekomme keinen Sitzplatz. Ich lasse das
    noch einmal durchgehen, so ist das eben, wenn man nicht vorbestellt.
    Nach einer entsetzlichen und unbeschreiblichen Fahrt bekomme ich Streit
    mit der bockigen Zicke von Busfahrerin, die ich frage, ob sie vielleicht
    mal Lust hat, einen Bus im Stehen zu fahren und der ich zu erklären
    versuche, dass meine Firma aber
    drei Strassen weiter ist und mir ein Ausstieg hier an der Haltestelle
    wohl wenig bringe. Die "bockige Zicke", wie ich sie genannt habe, ruft
    mir über Funk nicht mal ein Taxi, sondern die Polizei. Ich habe Glück
    und erwische den gleichen Beamten, der mir gestern grinsend mein Fahrrad
    kaputt getreten hat, meinen treuen Begleiter seit Kindertagen.

    Ich bin heute entlassen worden, weil ich ständig zu spät zur Arbeit kam.
    Das ist doch nicht meine Schuld! Dieses Land zeigt einfach kein
    Verständnis für die Bedürfnisse der Menschen nach Freiheit und
    Mobilität. Dabei verlange ich doch nur eine freie Strasse und meinen
    BMW. Mehr will ich doch nicht. Na ja, die KFZ-Steuer für Autos über 200
    PS müsste dramatisch gesenkt werden und eine eigene Fahrspur wäre auch
    nicht schlecht. Busse haben sowas. Aber man will ja schließlich nicht
    überheblich sein.

    :forum:

    Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt ist ein Mensch. Erich Kästner.

  • Dieses Thema enthält einen weiteren Beitrag, der nur für registrierte Benutzer sichtbar ist, bitte registrieren Sie sich oder melden Sie sich an um diesen lesen zu können.